Bevor wir uns zu einer Tagesklausur auf Schloss Freudenfels trafen, hatte ich den dreien die Aufgabe gegeben, eine gemeinsame Hitparade ihrer wichtigsten Werte zusammenzustellen und mitzubringen. Beim Begrüssungscafé übergaben sie mir mit einem unergründlichen Schmunzeln eine kunstvoll zusammengebundene Papierrolle, die ich gespannt öffnete. Sie enthielt eine Liste mit folgenden fünf Begriffen:

1. Unbeständig
2. Ziellos
3. Konzeptlos
4. Unfokussiert
5. Führungslos

Man musste mir die Irritation wohl angesehen haben, denn die drei lachten laut, als sie mir beim Lesen zusahen. Nachdem die Überraschung etwas abgeklungen war, meinte Melanie mit fröhlichem, aber ernstem Ausdruck: «Es ist kein Witz, wir würden gerne genau diese fünf Eigenschaften unseres künftigen Unternehmens mit dir besprechen».

Ihre Begründung für Kernwert 1 lautete wie folgt: «Es graut uns vor Claims wie 'Familienbetrieb mit 50-jähriger Geschichte', und wir haben auch keine Lust, unser Unternehmen einmal an unseren Nachwuchs zu vererben. Wenn wir dereinst sterben, darf auch unser Unternehmen seinen natürlichen Tod finden.

Wir sind davon überzeugt, dass Tradition heute kein USP mehr sein kann. Rahmenbedingungen und Bedürfnisse ändern sich so schnell und grundlegend, dass pure Beständigkeit keinen Sinn ergibt. Wir wollen uns im Gegenteil immer wieder neu erfinden.»

Der letzte Satz mündete in einen kreativen Austausch. Wir suchten nach treffenden Alternativen für das «Unwort Unbeständigkeit». Schliesslich einigten sich die drei auf den definitiven Kernwert 1:

Ihren Kernwert 2 erklärten die drei so: «Wir brauchen keine Ziele, um uns zu motivieren. Die Motivation steckt tief in uns drin und kommt voll zum Tragen, so lange wir Spass und gute Rahmenbedingungen haben. Zudem sind Ziele oft starr und auf Langfristigkeit angelegt. Wir orientieren uns aber nicht an der Zukunft, sondern an den aktuellen Bedürfnissen unserer Kundinnen und Kunden. Wir wollen frei und unmittelbar darauf reagieren und sofort Lösungen kreieren.»

Nach diesem klaren Votum war der alternative Begriff für Kernwert 2 schnell gefunden:

«Weisst du», sagte Emanuel, als er mir Kernwert 3 erläuterte, «wir haben in den vergangenen Wochen unzählige Bücher und Konzepte gelesen: U-Theorie, St. Galler Management-Modell, John Kotter, Walter Häfele, Reinventing Organizations, Trigon-Modell und, und, und ... wir fanden vieles ganz toll und brauchbar, aber wir wollen uns keinem Konzept verpflichten». 

Melanie und Jasmin ergänzten, dass Konzepte aus ihrer Sicht immer dann ihre Dynamik verlören, sobald sie in Bücher gepresst würden. Viel spannender sei es, sich permanent weiterzubilden, mit Expertinnen und Experten im Diskurs zu stehen sowie die Forschung aktiv zu verfolgen. Gerade jetzt entstünden in Ökonomie, Transformation und Gesellschaft so atemberaubend innovative Ideen, dass es sich lohne, an neuesten Entwicklungen drazubleiben und etwa den Draht zu den Hochschulen am Glühen zu erhalten. Das Wort «konzeptlos» ersetzten sie selbst durch den neuen Kernwert 3:

Mir gefiel das Muster, wie wir arbeiteten. Die drei erklärten ihre Motive und lancierten jedes Mal einen faszinierenden Austausch. Dies war auch bei Kernwert 4 der Fall: Jasmin erzählte, dass sie nebst «unfokussiert» auch über «disziplinlos» sowie «unprofessionell» diskutiert hätten. Auf jeden Fall gehe es ihnen darum, einen Tunnelblick zu vermeiden. «Wir wollen uns weder auf eine einzige Disziplin noch auf eine bestimmte Profession beschränken, sondern suchen Kooperation, Inspiration und Austausch.»

Nach einer Kaffepause konnten sie ihr Anliegen noch genauer beschreiben und meinten, «fokussiert» sei ein Modewort, das man sowohl im Sport als auch in der Marktwirtschaft dauernd höre. Es ginge ihnen aber darum, den Kopf nicht nur nach unten auf das eigene begrenzte Aktionsfeld zu richten, sondern im Sinne des Design-Thinking unterdisziplinär zu handeln – entweder indem man selbst einen breiten Horizont habe, oder indem man Kompetenzen externer Partnerinnen und Partner anzapfe. Das leidenschaftliche Gespräch mündete im neuen Kernwert 4:

«Unglaublich», platzte Emanuel beim letzten Stichwort heraus, «was wir alles zum Thema Führung gehört und gelesen haben! Als gebe es in einem Unternehmen nichts Wichtigeres als Führung. Mit Büchern zu Führungsprinzipien liessen sich Türme bauen! Je mehr wir gelesen haben, desto mehr haben wir uns gefragt, ob wir das erste Unternehmen sein werden, dass ohne Hierarchien, Unterdrückung, Kontrolle und Managementmodelle auskommt».

Die Debatte war lang und voller Feuer! Die Essenz des Anliegens kann am besten damit umschrieben werden, dass die drei keine klassischen Führungsstrukturen bilden, sondern Zuständigkeiten und Verantortlichkeiten zuteilen wollten, und zwar nicht Vorgesetzten oder einer Geschäftsleitung, sondern umsichtig agierenden Teams. Damit war der Kernwert 5 fürs Leitbild definiert:

Damit stand auch das Werteleitbild des neuen Unternehmens definitiv fest:

Die drei waren begeistert, und ich war es auch! Wir bestellten eine Flasche Champagner und stiessen auf der Terrasse mit traumhaften Blick auf Untersee und Rhein auf das inspirierende Meeting an.

Ich sagte ja zu Beginn des Artikels: Es war ein Traumauftrag ... ich wachte heute gegen sechs Uhr auf und musste meinen Traum umgehend in diesen Blog-Post verpacken. Und eines weiss ich: Unternehmerinnen und Unternehmern, die so denken, gehört die Zukunft!