Eine kleine Schule rockt die Zukunft. Und zeigt der Wirtschaft, wie Innovation geht.

Ich muss Ihnen unbedingt von einer winzigen Schule erzählen, die nach Scharmers U-Theorie Design-Thinking in die Tat umgesetzt hat und zu einer agileren und evolutionäreren Organisation als manches Privatunternehmen geworden ist!

Mogelsheim ist ein kleines Dorf zwischen Bodensee und Alpstein. Es verfügt über eine moderne Schulanlage, die alle Klassen vom Kindergarten bis zur dritten Oberstufe beherbergt. Der einladende Bau wurde von der engagierten Schulbehörde mit Weitsicht geplant und vor zwei Jahren fertiggestellt. Insgesamt 25 Lehrpersonen und acht Klassenassistenzen unterrichten rund 200 Kinder und Jugendliche. Die Schulleiterin, welche die Schule ein Jahr vor dem Einzug in den Neubau übernahm, hatte zuvor sehr erfolgreich ein Industrieunternehmen geführt und verfügt über keinen schulischen Hintergrund.

Tägliche Gespräche statt Zielvereinbarungen

Bei ihrem Start während der Sommerferien 2018 setzt sie gleich eine zweiwöchige Klausur mit dem Kollegium an, um eine gemeinsame Vision zu entwickeln. Dabei skizziert sie folgenden Rahmen für die Zusammenarbeit:

  1. Für ihre Rolle als Schulleitung nutzt sie die Metapher «Gastgeberin». Sie wolle die bestmöglichen Bedingungen schaffen, damit sich die Lehrpersonen an der Schule wohlfühlten und sich täglich mit Spass und Energie auf die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern konzentrieren könnten.
  2. Institutionalisierte Mitarbeiterinnen- und Mitarbeitergespräche mit Beurteilung und Zielvereinbarung schaffe sie ab. Statt dessen sei sie täglich im Unterricht präsent und biete jederzeit ein offenes Ohr für Anliegen aller Art.
  3. Sie bezeichnet die politische Gemeinde Mogelsheim als Kundin, die bei der Schule einen erstklassigen Unterricht bestellt habe, um den Kindern «die Welt zu eröffnen» und ihre Talente zu fördern.
  4. Die Lehrpersonen nennt sie «Produktverantwortliche», die im Rahmen des Lehrplans und des Anliegens der Kundschaft alle Freiheiten hätten, gemeinsam ein erstklassiges «Produkt Unterricht» zu entwerfen und kontinuierlich weiterzuentwickeln.  
  5. Zudem äussert sie begeistert, die Partnerschaft mit den Eltern sei ein «grosses Privileg». Da diese für ihre Kinder dieselben Ziele verfolgen würden wie die Gemeinde und die Schule, sei so intensiv wie möglich mit ihnen zusammenzuarbeiten. Sie seien in der Schule jederzeit herzlich willkommen. Gleichzeitig habe man einen Auftrag, die Eltern zu entlasten, etwa durch Betreuungsangebote am frühen Morgen, über den Mittag sowie bis zum Feierabend.  

Der Visionsprozess entwickelt sich zum grossen Spass. Nach Scharmers U-Theorie beginnt man, sich von Gewohntem zu lösen, die Sinne für Neues zu öffnen und in mehreren Stille- und Kreativsequenzen die Zukunft zu erspüren. Dabei entstehen Fantasien wie «hybrides Lernen», «Noten abschaffen» oder  «Spitzenleistungen ermöglichen». Dass neu nicht mehr in Jahrgangsklassen oder Stufen, sondern als gemeinsame Schule gedacht wird, inspiriert den Prozess zusätzlich. Sukzessive werden verstaubte Schulregeln, starre Stoffpläne oder unnötige Formulare entsorgt. Es kristallisiert sich eine kraftvolle Vision heraus, die von allen mit Überzeugung getragen wird:

gemeinsam Welt erforschen und verbessern

Im Gespräch mit den Schülerinnen und Schülern entsteht folgende Untermalung der Vision:

  • Wir verstehen uns als altersdurchmischte Lerngemeinschaft.
  • Wir wollen die Welt um uns herum und auf dem Globus erforschen und sind uns bewusst, dass alles im Fluss ist und sich verändert.
  • Wir wollen in jeder Beziehung hybrid lernen: digital und analog, einzeln und in Gruppen, zu Hause, in der Schule und an vielen anderen spannenden Orten.
  • Wir wollen zu einer besseren Welt beitragen, indem wir Verantwortung für Gemeinschaft, Natur, Gesundheit und Fortschritt übernehmen und unser Verhalten reflektieren.
  • Wir wollen unsere Talente und Potenziale erweitern und über uns hinauswachsen. 

Design-Thinking an der Volksschule?

Ein Jahr später treffen sich Lehrpersonen und Schulleitung zu einer Retraite in einem Hotel am Bodensee. Dabei werden sie von einer Beraterin mit «Design-Thinking» vertraut gemacht. Sie lernen, dass sie ihr «Produkt Unterricht» permanent verbessern können, indem sie es selbst konstruktiv hinterfragen und im Gespräch mit ihren «Kundinnen und Kunden» laufend überprüfen und entwickeln. Sie vereinbaren folgende Grundsätze:

  • Die Beurteilung von Lehrpersonen durch die Schulleitung entfällt. Stattdessen verpflichten sich alle dazu, den Unterricht zielstrebig weiterzuentwickeln, indem sie Neues erproben, Gutes optimieren und weniger Hilfreiches abbauen. Dazu bauen sie eine kollegiale Intervisionsgruppe und eine ermutigende Feedbackkultur auf.
  • Alle Schülerinnen und Schüler werden zweimal jährlich schriftlich zur Schul- und Unterrichtsqualität sowie zu ihrem Befinden befragt. Die Ergebnisse werden anonymisiert transparent gemacht und als Impulse zur Weiterentwicklung genutzt. 
  • Das Schülerinnen- und Schülerparlament wird ausgebaut und mit weiteren Rechten ausgetattet.
  • Die Individualisierung des Unterrichts erhält viel stärkere Bedeutung. Kinder und Jugendliche werden nicht nach Jahrgang, sondern nach Entwicklungsstand gefördert und können zudem ihre persönlichen Interessen einbringen. Benotete Prüfungen werden durch wertschätzende Feedbacks und professionelle Coachinggespräche ersetzt. 
  • Die Eltern werden alle zwei Jahre schriftlich befragt. Sie sind jederzeit gern gesehene Gäste und Gesprächspartner-/innen.

Als ich die Schule vor einigen Wochen besuche, gerate ich ins Staunen: In einem offenen Zimmer sind fünf Jugendliche selbstständig am Arbeiten. Sie recherchieren offensichtlich, wie ein Impfstoff entsteht und erstellen mit ihren Erkenntnissen eine attraktive Präsentation. Einige ihrer Kolleginnen und Kollegen, die zu Hause arbeiten, sind per Video zugeschaltet und bringen sich völlig natürlich ins Gespräch ein. 

In der Sporthalle ist ein packendes Schachturnier im Gang. An 24 Tischen spielen Kinder jeweils gegen einen Schachcomputer und vesuchen, diesen zu überlisten. In den Pausen zwischen ihren Matches entspannen sie sich entweder mit Musik oder spielen auf dem Pausenplatz Pingpong. Es geht sportlich und jederzeit fair zu.

Auf einem der Gänge treffe ich die Schulleitung, die mich lachend begrüsst und in den Kindergarten begleitet. Ein Gruppe vier- bis siebenjähriger Kinder arbeitet mit Zahl- und Mengenbegriffen, einige mit farbigen Gegenständen, andere in einem Heft oder auf einem iPad. Zwei Lehrerinnen und ein pensionierter Lehrer, der assistiert, stehen bei Fragen zur Verfügung, so dass niemand auf Hilfe warten muss. Die meisten Kinder holen sich allerdings zuerst bei ihren Kolleginnen und Kollegen Unterstützung, bevor sie sich an die Erwachsenen wenden. 

Es gäbe noch viel zu erzählen ...

Naja, es gibt gerade in der Ostschweiz zahlreiche innovative Schulen. Aber so wenig wie es ein Mogelsheim gibt, so wenig existiert die beschriebene Schule in dieser Form. Leider. Gäbe es sie, es wäre meine Lieblingsschule!
André Kesper ist Kommunikations- und Organisationsberater und arbeitet parallel dazu als Schulberater im Kanton Thurgau. Möchten Sie mit ihm über gelingende Change-Prozesse sprechen? Rufen Sie ihn an unter 079 411 81 35.