Wir werden lernen (müssen), anders zu geniessen

Liebe S, in letzter Zeit betonst du häufig, wie konservativ du seist. Du schreibst mir, dass dir Werte der «alten Schule» heilig seien und wir uns auf Bewährtes besinnen sollten. Zur Verstärkung hast du mir einen Artikel über ein renommiertes Gourmet-Restaurant gesandt, das mit verändertem Konzept wieder eröffnet werden soll. Die neuen Besitzer (alle männlich) planen einen «Kurswechsel zurück zu den Wurzeln». Ich habe den Artikel studiert.


«Zurück zu den Wurzeln» ist ein klares Statement. Es bedeutet: «Wir haben keine Vision. Deshalb setzen wir auf frühere Erfolgsrezepte». Im Artikel steht denn auch wörtlich, welche Rezepte gemeint sind:

«Geschnetzeltes und ein guter Hackbraten werden nicht fehlen. Es wird aber auch Kalbsbratwurst vom Grill sowie Wurst-Käse-Salat geben, und freitags feinen Fisch aus dem nahen See.»
Ob dieses Rezept rein wirtschaftlich zum Erfolg führt, will ich nicht beurteilen. Ich kann mir aber vorstellen, dass «täglich Fleisch und freitags Fisch» noch für eine Weile ein Zielpublikum hat – am ehesten bürgerliche Ü60er. Obwohl sich selbst diese Zielgruppe rasch verändert, werden sich vermutlich noch ein paar zahlungskräftige Kundinnen und Kunden finden, die Lust auf konventionell produzierte tierische Produkte haben – traditionell verarbeitet und zu gewohnten Menüs kombiniert. Möglicherweise lässt sich mit dem Konzept kurzfristig also noch etwas Geld verdienen.

Dass dich als leidenschaftliche Unternehmerin ein solch rückwärtsgewandtes Geschäftsmodell begeistert, kann ich allerdings nicht verstehen. Ich kenne dich als visionär, mutig und verantwortungsvoll. Ich habe deshalb ein paar Fragen an dich:

Muss Wirtschaft nicht ethisch sein?
Fleisch- und Fischkonsum beruht auf der Herrschaft des Menschen über das Tier und in den meisten Fällen auf Ausbeutung. Es braucht eine gewisse Ignoranz, bei Bildern aus Hühnerställen, Schlachthöfen und Fleischverarbeitungsbetrieben wegzusehen. Dabei leitet uns in unseren Breitengraden nicht Hunger, sondern gedankenlose Lust. Diese Erkenntnis kommt derzeit gerade in der Gesellschaft an. Vegane Ernährung nimmt Fahrt auf, weil die neue Generation das Tier vermehrt als Mitgeschöpf und nicht als Konsumprodukt versteht. Du hast selber Tiere und erzählst mir oft, dass du sie von Herzen liebst. Wie kann dich ein Gastrokonzept begeistern, das auf der Gewalt am Tier basiert? Braucht die Wirtschaft keine Ethik?

Sollte Wirtschaft nicht ökologisch sein?
Die Frage nach der Zukunft des Tiers in der menschlichen Ernährung hat nicht nur eine ethische, sondern auch eine ökologische Komponente. Zahlreiche Wissenschafterinnen und Wissenschafter gehen davon aus, dass unsere Form der Tierhaltung in dramatischer Weise für Ressourcenverknappung und Klimawandel verantwortlich ist. Manche sprechen zudem von einem Zusammenhang zwischen Fleischkonsum und Pandemien. Ohne fundamentalistisch zu werden: Informierst du dich über solche Erkenntnisse oder schaust du lieber weg, weil die Katastrophe zum grössten Teil die Generation nach uns trifft? Wie kannst du als visionäre Unternehmerin über ein Gastrokonzept jubeln, das unter dem Titel «Zurück zu den Wurzeln» auf der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen beruht? Brauchen Unternehmerinnen und Unternehmer kein Verantwortungsgefühl?

Dürfen Unternehmer*innen nicht mehr visionär sein?
In Branding, Organisationsentwicklung und Unternehmenskommunikation spricht man vom «Corporate Purpose». Als Synonym zur «Leitidee», zur «Vision» oder zur «Mission» kommuniziert der «Purpose» den tiefen Sinn, die Bestimmung und den zukunftsgerichteten Wert eines Unternehmens. In einem guten «Purpose» lässt sich so das emotionale Anliegen der Unternehmensführung erkennen, mit hochwertigen Produkten oder Dienstleistungen die Welt zu verbessern. Und nur dank «weltverbessernder» Visionen konnte sich unsere Gesellschaft kulturell und wirtschaftlich entwickeln. Im Konzept des von dir hoch gelobten Restaurants vermisse ich gleich alles: Vision, Idee, Purpose, Werthaltungen, Verantwortung. Oder besteht der Purpose darin, einer alt gewordenen Bevölkerungsgruppe mit Hackbraten Kindheitsgefühle zu ermöglichen und damit das Ersparte abzuknöpfen? Denke ich da aus deiner Sicht zu weit oder zu kritisch? Darf ich von Unternehmer*innen keine Visionen erwarten?

Können Unternehmer*innen nicht mehr kreativ sein?
EssKULTUR», KochKUNST: In diesen schönen Begriffen steckt der Anspruch an schöpferische Kraft, Kreativität und Entdeckung neuer Erlebniswelten. Nicht von ungefähr: Die sinnlichen Lebensmittel, die uns der Planet bietet, eröffnen unbegrenzte Möglichkeiten, kreativ zu sein – unabhängig von finanziellen und technischen Mitteln. Und siehe da: Junge Pionierinnen und Pioniere bereichern derzeit die Gastroszene mit erfrischenden Ideen und Erfindungen. Sie testen, zaubern, experimentieren, tüfteln und begeistern uns mit Farben, Düften und Geschmäckern aus der Welt der Pflanzen und führen uns genussreich in die Zukunft des Essens und Trinkens. Und dein Restaurant, liebe S, gräbt die alten Wurst-Käse-Salat-Rezepte aus. «Verfeinert» die geschmacklosen tierischen Produkte mit viel Salz, Senf oder Streuwürze und garniert sie mit einem Salatblatt, einem Tomatenschnitz oder einem Radieschen aus dem En-Gros-Markt? Weshalb beeindruckt dieses fantasielose Geschäftsmodell, während andere schöpferisch sind?    

Wollen Unternehmer*innen nicht mehr mutig sein?
Die Debatte «Zurück zu den Wurzeln» kenne ich auch aus dem Bildungsbereich. Es wird oft postuliert, die Schule müsse sich wieder zu den «alten Werten bekennen». Dabei wird ausgeblendet, dass die Wirtschafts-, Klima- und Gesundheitskrisen unserer Zeit durch Menschen verursacht wurden, welche die «gute alte Schule» genossen haben, und dass Analphabetismus, Kommunikations- und Konflikunfähigkeit sowie unkritisches Herdendenken ebenfalls jener Zeit zu verdanken sind. Längst haben sich mutige Pädagog*innen aufgemacht, die Schule neu zu denken – gegen Widerstände und radikal von der Zukunft her: Im Zentrum stehen individuell gesteuerte Lernprozesse, Selbstverantwortung, Coaching, Beziehungskompetenz sowie Skills für eine digitale, vernetzte und sich schnell verändernde Welt. «Deine» Gastrounternehmer würden hingegen weiterhin auf schriftliches Dividieren im eingefassten Rechenheft, das Ausmalen von Matritzenbildern zur Schlacht von Bibracte und unvorbereitete und benotete Diktate setzen. Zwar sinnlos, aber schön konservativ und traditionell. Und jetzt die direkte Frage an dich: Weshalb applaudierst du einem mutlosen Business-Modell? Nur weil es die alten Zeiten konserviert? 

Liebe S, wir kennen uns seit fünfzehn Jahren und arbeiten sehr erfolgreich zusammen. Im Thema «Wurzeln oder Vision» gehen unsere Haltungen allerdings weit auseinander. Du setzt auf die alten Rezepte und ich glaube, dass wir in Zukunft anders geniessen werden als bisher. Ich bin gespannt, wie meine Fragen zum Artikel und zu modernem Unternehmer*innentum bei dir ankommen und welche Antworten du findest. Herzlich und bis bald, André

André Kesper ist Kommunikations- und Organisationsberater. Haben Sie Lust, mit ihm über Ihre Vision und Ihre Werte zu sprechen? Rufen Sie ihn an unter 079 411 81 35 oder schreiben Sie ihm auf Linkedin.